Rezension

Ein Zeitzeuge der letzten 400 Jahre.

Wie man die Zeit anhält
von Matt Haig

Bewertet mit 5 Sternen

Eine mitreißender, philosophischer Roman über Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und was die Menschen aus ihrer eigenen Geschichte machen...

„Ich bin viele in einem Körper. Ich war Menschen, die ich gehasst habe, und Menschen, die ich bewundert habe. Ich war aufregend und langweilig und glücklich und unendlich traurig. Ich war auf der richtigen und ich war auf der falschen Seite der Geschichte. Kurz gesagt, ich habe mich irgendwo unterwegs verloren.“ (Wie man die Zeit anhält, S.100/101)

Tom ist über 400 Jahre alt. Auf seine Mitmenschen wirkt er allerdings eher wie ein Mittvierziger. Er gehört zu einer kleinen Gruppe von Menschen, die nur sehr langsam altern und vor den meisten Erkrankungen gefeit sind. Er hat keine Superkräfte, er ist nicht unsterblich, aber er ist gezwungen, viele Leben zu leben. Immer wieder, wenn seine Mitmenschen bemerken, dass er nicht altert, muss er seine Identitäten und Wohnorte wechseln. Dabei hilft ihm die Albatros-Gesellschaft, ein Zusammenschluss von Menschen, die so sind wie er. Seine große Liebe hat Tom im 17. Jahrhundert an die Pest verloren und sich seitdem verboten, zu lieben. Jetzt, im 21. Jahrhundert, kehrt er als Geschichtslehrer nach London, an den Ort seiner einstigen Liebe, zurück und eine neue Frau tritt in sein Leben.

Mein Leseerlebnis:

Von Beginn an hat mich Matt Haigs Erzählstil mitgerissen. Er nutzt die Perspektive eines „Ich-Erzählers“, um die Leser*innen ins Geschehen eintauchen zu lassen. Die Kapitel wechseln dabei ständig von der Gegenwart, hin zu Toms Erinnerungen aus den vielen Jahrhunderten seiner Existenz. In Bezug auf die Vergangenheit ist der Erzähler also allwissend, sieht Zusammenhänge und bildet sich Meinungen über die Entwicklung der Menschheit. In Bezug auf die Gegenwart aber ist der Erzähler erlebend und weiß genauso wenig, was passieren wird, wie die Leser*innen. An Toms Erlebnissen, Erfahrungen, Gedanken, aber auch Fragen und Zukunftsängsten habe ich dadurch großen Anteil genommen und sie haben sehr schnell Emotionen bei mir geweckt.

Die Kapitel sind sehr übersichtlich mit Ort und Zeit benannt, sodass ich nie über einen Zeitsprung oder eine Rückblende gestolpert bin.

Matt Haig kannte ich bislang nicht und habe aufgrund der „Zeitreise“-Thematik und der historischen Bezüge zu dem Buch gegriffen. Von seinem Erzählstil bin ich allerdings so begeistert, dass ich in jedem Fall weitere Romane von ihm lesen werde.

Tom ist grundsätzlich sympathisch. Seine Absichten, sein Denken und Handeln sind nachvollziehbar und gut. Er möchte das Richtige tun, muss aber auch immer wieder die leidvolle Erfahrung machen, dass das oft nicht möglich ist. Auch wenn er eigentlich ein einfacher Mann ist, kommt man nicht umhin, ihn zu bewundern für die Erlebnisse, die er gemacht hat, und den (Lebens-)Mut, trotz all dieses Wissens noch positiv in die Zukunft zu gehen. Sehr gut gelungen sind Haig auch die Nebencharaktere. Vielfach sind sie in ihrem Denken und Handeln „Kinder ihrer Zeit“, unterscheiden sich in ihren Motiven aber letztlich nicht sehr von den Mitmenschen der Gegenwart. Obwohl viele von ihnen nur in wenigen Kapiteln auftauchen, sind sie gut ausgestaltet und wirken authentisch. Sie sorgen an den richtigen Stellen für lustige Szenen und die eine oder andere heitere Auflockerung.

Der Roman steckt voller kluger, anrührender und brillant formulierter Gedanken...

...zur Geschichte und was die Menschen daraus lernen;

...zum Leben und was es wert ist;

...zur Vergänglichkeit und der Hoffnung auf eine Zukunft.

Ich habe mir lange nicht mehr so viele Zitate aus einem Roman herausgeschrieben, wie in diesem Fall.

Fazit: ⏱ ⏱ ⏱ ⏱ ⏱ von 5

WIE MAN DIE ZEIT ANHÄLT ist eine wundervolle philosophische Geschichte über Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und was die Menschen aus ihrer eigenen Geschichte machen (wollen). Dabei ist sie niemals abgehoben, sondern bleibt zutiefst menschlich. Ich empfehle das Buch daher allen, die sich auf eine unterhaltsame und mitreißende Art mit einigen der großen Lebensfragen auseinandersetzen möchten und Fans von historischen Romanen, die es spannend finden, wenn jemand durch die Zeiten wandert.