Rezension

Eine wunderbare und vielschichtige Hommage an "Stolz und Vorurteil"

Im Hause Longbourn - Jo Baker

Im Hause Longbourn
von Jo Baker

Das Dienstmädchen Sarah arbeitet seit ihrer Kindheit für die Familie Bennet. Gemeinsam mit Mr. und Mrs. Hill und einer jungen Magd stellen sie das gesamte Hauspersonal der siebenköpfigen Herrschaft dar. Der mühselige Alltag wird jedoch bald erleichtert, als überraschend der junge Jacob als Diener eingestellt wird. Groß, verschlossen und eher einsilbig löst er zugleich Neugierde und Ärger in Sarah aus. Als dann auch noch der attraktive und exotische Diener der Bingleys mit ihr flirtet, beginnt Sarah über ihre Zukunft nachzudenken.
Zunächst orientiert sich das Buch an der Handlung von Stolz und Vorurteil. Die Kapitel beginnen jeweils mit einem Zitat daraus und stimmen jeweils auf das Folgende ein. Es gibt natürlich auch innerhalb der Kapitel immer wieder Überschneidungen mit dem viktorianischen Vorbild, doch die Handlung von Longbourn zeigt auch was abseits dessen passiert und man folgt Sarah noch über die Hochzeit der Darcys und der ersten Jahre nach Pemberley. Auch wenn man auf dem ersten Blick das Gefühl hat, dass hier die Handlung von Stolz und Vorurteil nur auf die Dienstbotenklasse gespiegelt wird, bietet dieses Buch weitaus mehr und eine deutlich komplexere Handlung.
Da Jo Baker eine in Oxford studierte Literaturwissenschaftlerin ist, habe ich natürlich große Erwartungen (Dickens-Wortspiel nicht beabsichtigt) an ihr Werk gehabt. Ich weiß, dass im englischsprachigem Raum die Literaturwissenschaft sehr eng mit den Kulturwissenschaften verbunden ist. Ein Werk wird dort viel stärker in den sozialhistorischen Kontext gesetzt. Man beschäftigt sich mit der Lebenswirklichkeit, in der die Werke eingebettet werden. Und genau dies hat die Autorin hier exzellent auf ihr eigenes Werk übertragen. Sie hat dabei die Perspektive der am wenigsten wichtigen Figuren von Jane Austens Werk gewählt und an ihnen den schmutzigen, damals nicht erwähnenswerten Alltag beschrieben. Dabei lässt sie auch die weniger schönen Seiten nicht außen vor. Es ist also auch nicht verwunderlich, dass hier auch Themen wie versteckte bis unterdrückte Homosexualität, militärische Ungerechtigkeiten, Missbrauch an minderjährigen Dienstmädchen und sogar Sklaverei angesprochen werden. Sie sind hier alle Teil der Lebenswirklichkeit, doch es gibt natürlich auch schöne Momente: Die Freude über die abgelegten Kleider der Bennet-Mädchen, der freie Zugang zur umfangreichen Literatur Bibliothek von Mr. Bennet, Möglichkeiten des Aufstiegs und alternative Lebensentwürfe.

Die Faszination von diesem Buch ging für mich gerade von diesem unglamourösen Perspektivwechsel aus. Ein Beispiel: Elisabeth läuft ohne viele Gedanken über die schlammigen Feldwege. In Stolz und Vorurteil denkt man: Ach, sie ist so erfrischend uneitel. In Longbourn erfährt man über die stundenlange schweißtreibende Arbeit, die die Dienstmädchen mit der Reinigung und Bleiche solcher verschmutzten Unterröcke haben und ist ein wenig empört über die Gedankenlosigkeit der Bennets. Baker macht aber immer wieder deutlich, dass dies alles Teile eines in sich (mehr oder weniger) intakten Systems war und kein Ausdruck von moralischem Mangel.
Dies ist eindeutig kein Buch mit Fan-Service! Das sollte man sich vor der Lektüre bewusst machen. Es ist ein reifes, gut komponiertes Werk, der man zwar die Liebe für Jane Austens Werke in jeder Zeile anmerkt, doch die Autorin verliert dabei nicht ihre Professionalität als Wissenschaftlerin. Das Buch zeigt eine andere Seite der Zeit, der Lebenswirklichkeit der unteren Schichten. Ähnlich der neusten Trends aus der BBC-Welt, wählt man hier einen bewusst neutralen, nicht anklagenden Ton. Man zeigt die Mühen der Haushälter, ihre Themen, ihre Sorgen, doch verliert dabei nie den Blick für das Ganze. Es ist ein in sich schlüssiges und funktionierendes System. Es hat durchaus seine Mängel – dafür braucht es keine abgründig leidenden Figuren eines Charles Dickens, um das zu zeigen. Doch die Figuren in Jo Bakers Buch finden ihre eigenen Mittel und Wege, um mit den zugeschriebenen Rollen umzugehen. Man lernt Aufstieg und Fall kennen, alternative Lebensmodelle, verdeckte Homosexualität oder den bewussten Weg in die Ehelosigkeit, der dafür aber den sozialen Aufstieg mit sich bringt. In einem Haushalt eine feste Anstellung haben hat genauso seine Vor- und Nachteile, wie sein eigener Herr zu sein. All das wird von Sarah und den anderen Dienstboten durch gespielt. Selten habe ich einen so umfassenden Blick auf eine Gesellschaftsschicht bekommen, ohne ein Sachbuch zur Hand genommen zu haben.
Dabei bleibt die Handlung nicht hinten an, denn diese ist lebendig und ähnlich verstrickt wie das Austen’sche Vorbild. Auch hier haben wir einen großen dunklen, zurückhaltenden jungen Mann, der durch seine ruhige bis abweisende Art die schlaue und etwas forsche Heldin reizt, den hübschen, etwas zwielichtigen Flirt und eine Menge Vorurteile.

Fazit: Jo Baker erschafft in ihrem Buch eine völlig neue Facette am “Stolz und Vorurteil”-Sequell-Himmel: Ihr Werk ermöglicht einen tieferen und erhellenderen Blick in die Wirklichkeit der Bennet-Schwestern und die damalige Zeit. Charmant und gekonnt verwebt sie die bekannte Handlung von Elisabeth und Mr. Darcy mit den Schicksalen der treuen Dienstboten ohne in einem kitschigen Aufguss der Vorlage zu enden. Anspruchsvoll und unterhaltsam. Miss Austen hätte dieses Werk sicher mit Interesse gelesen.