Rezension

Schonungslos und berührend - Wortmagie vom Feinsten!

Niemand liebt November - Antonia Michaelis

Niemand liebt November
von Antonia Michaelis

Bewertet mit 5 Sternen

Die Heizung war jetzt wie Eis, und der Flur war ein Grab aus Schatten. Sie war so müde, und die fremde Stadt war so groß, und der November sammelte sich im Hausflur wie Schnee. S. 12

Meine Meinung

Ich hab das Buch gerade beendet und bin noch immer total gefangen in einem Gefühlschaos, das sich wirklich sehr schwer beschreiben lässt und ich gar nicht weiß, ob und wie ich das alles in Worte fassen kann! Von Antonia Michaelis habe ich bisher drei Bücher gelesen - sehr unterschiedliche Bücher, die alle eine Botschaft haben, aber keins hat mich so intensiv berührt wie das hier.

Schon als ich das Cover gesehen hatte, wusste ich, dass ich dieses Buch unbedingt lesen will. Es passt perfekt zum Buch mit seinen trüben Farben, der einsamen Gestalt die ihren Weg geht und den wenigen Farbtupfern, die sie auf diesem begleiten. Ich hab bis November gewartet, wegen dem Titel, was eigentlich Blödsinn ist, ich habs mir aber nunmal eingebildet und anscheinend hab ich genau den richtigen Zeitpunkt erwischt.

November Lark, oder auch Amber, ist 17 Jahre alt. An ihrem 6. Geburtstag war sie alleine zu Hause, schon eine Woche lang und für ihren selbstgebackenenn Kuchen fand sie nur vier Kerzen - zwei zuwenig. An diesem Tag beschließt sie, ihr zuhause zu verlassen und auf die Suche zu gehen. Es gibt nichts, das sie mitnehmen kann, bis auf die Katze.

Das Mädchen erschrak ein wenig, denn es hatte nicht gewusst, dass die Katze sprechen konnte. Vielleicht konnte sie sprechen, weil das Mädchen die letzte Woche über sehr viel mit ihr gesprochen hatte. Es war niemand anders dagewesen. S. 79

Mit 17 kann sie der Routine aus Pflegefamilien und Heimaufenthalten entfliehen und sich endlich auf die Suche nach ihren Eltern machen. Ihr einziger Hinweis: Eine Streichholzschachtel, die sie zu einer Kneipe namens "Bottled" führt. Dort lernt sie den Barbesitzer "Katja" kennen. Ein gutmütiger Kerl, der oft an ihr verzweifelt und dennoch nicht aufgibt. Auch er hat in seiner Vergangenheit etwas verloren, doch seine Suche hat er schon lange aufgegeben. Vielleicht versteht er Amber deshalb so gut, aber wie soll er ihr helfen, wenn sie nicht einmal genau weiß, was ihr fehlt?

Sie sah sich am Ende der Straße noch einmal um, und Katja stand weiter da und starrte ins Licht.
"Wenn er das zu lange tut, sieht er irgendwann gar nichts mehr", sagte sie.
Vielleicht will er das, sagte die Katze.
S. 250

Amber ist misstrauisch und einsam, sie raucht und klaut und trägt eine unbändige Wut in sich, die sie oft in Schwierigkeiten gebracht hat; doch sie hat auf ihre eigene Art gelernt, damit umzugehen. Die Wut hilft ihr über das fehlende Vertrauen und die Enttäuschung hinweg. Die Katze ist immer noch bei ihr und hilft ihr mit ihrem Sarkasmus, aus kritischen Situationen zu entkommen. Auch Lucy ist immer bei ihr, sie ist nett und hübsch, sie kann flirten und tanzen und hat eine sehr ungezwungene Art, mit anderen Menschen umzugehen. Sie ist stolz, gesellig und mutig - alles das, was Amber nicht sein kann. Amber benutzt Lucy, verwandelt sich in sie mit einer guten Portion Schminke, um ihrer Wut und Hilflosigkeit zu entfliehen und so etwas wie Normalität in ihr Leben zu bringen - sie braucht Lucy, denn mir ihr kann sie eine Rolle spielen, die ihr Leben zumindest zeitweise erträglich macht.
Dann ist da noch der Junge in dem gelben Zelt, ein Junge mit einem Buch, in dem er liest. Aber er bleibt so flüchtig, wie alles andere in ihrem Leben.

In den Büchern gab es Menschen, die niemand waren, so wie Amber. Und die dann herausfanden, dass sie doch jemand waren. Aus den Büchern lernte Amber, dass die Realität Risse hatte, die man nur zu finden brauchte. S. 201

Nichts in ihrem Leben scheint Bestand zu haben, alles verschwindet: ihre Eltern, ihr Zuhause, das Heim, das Zelt - doch nichts geht an ihr spurlos vorrüber.
Amber sucht Geborgenheit und Nähe genau dort, wo man sie nicht verletzen kann - ein Trugschluss, und ihr einziger Halt ist die Katze, die letzte Erinnerung an ein Zuhause. Amber ist ein verzweifeltes, einsames Mädchen, das nicht weiß, wo es hingehört. Ohne Wurzeln treibt sie wie ein Blatt im Wind von einem Moment zum nächsten und es hat mich sehr berührt, was mit ihr passiert. Die Tragik von Ambers Rolle reicht weit und die Brutalität, der sie sich aussetzt, war echt und bewegend. Die Spur, der Amber folgt, wird immer neu gelegt und das Ziel somit unerreichbar. Sie gibt alles auf, bis sie nichts mehr fühlt, beseelt von der Hoffnung, ihr eigenes Leben wiederzufinden.

Die Autorin schafft von Anfang an eine ruhige, stimmungsvolle Atmosphäre mit einem melancholischen Unterton, mit dem die düstere Härte der Realität überspielt wird. Ich wurde regelrecht in diesen grauen Novembernebel hineingezogen, ahnungslos mit einer surrealstischen Wahrnehmung konfrontiert, die mich immer stärker mit der Protagonistin verbunden hat. Antonia Michaelis zeigt die Sehnsucht, im Leben einen Halt zu haben, der einen stützt, die Wurzeln zu finden, mit denen man über sich hinaus wachsen kann und nach der Geborgenheit, in der man für jemand anderen wichtig ist. Durch ihr Spiel mit den Worten kreiert sie eine ganz eigene Welt, eine andere Wirklichkeit, die sich im hintersten Winkel unseres Verstandes versteckt hält. Kleidet den Schrecken und die grausame Realität in den blendenden Zauber der Täuschung. Ein kleines Meisterwerk der Sprache, das mich sobald sicher nicht loslassen wird!

Fazit

Seit 11 Jahren ist Amber auf der Suche - nach ihren Eltern und nach sich selbst. Eine Geschichte zwischen Trauer und Hoffnung, Einsamkeit und Nähe und dem verzweifelten Verlangen, den Riss in der Realität zu schließen. Bewegend, trostlos und in all seiner Echtheit fern jeder Realität - Wortmagie vom Feinsten!

© Aleshanee
Weltenwanderer