Rezension

Ein traumatisierter Tell

Tell
von Joachim B. Schmidt

Bewertet mit 4 Sternen

In der „Chronicon Heleveticum“, der „Schweizer Chronik“ des Ägidius Tschudi (1505-1572) wird Wilhelm Tell als „redlicher, frommer Landsmann“ charakterisiert. Und so hat ihn auch Schiller in seinem letzten Schauspiel „Wilhelm Tell“ dargestellt. Er lässt seinen Tell in druckreifen Sentenzen sprechen: „Die Axt im Haus erspart den Zimmermann“, „Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt“, „Wer gar zu viel bedenkt, wird wenig leisten“ und so fort. Dieser Tell ist ein liebevoller Ehemann und Vater und steht zur Verfügung, die Freiheit der Eidgenossenschaft zu erkämpfen. Und so wird er im Laufe der Zeit zum Nationalmythos der Schweiz. 
Joachim B. Schmidt, geborener Schweizer und jetzt in Island lebend, erzählt die Geschichte um die Sagengestalt Tell neu, anders. 
Wir lernen seinen Tell als schweigsamen, verschlossenen und mürrischen Menschen kennen. Seine Frau findet keinen Zugang zu ihm, seinem ältesten Sohn gegenüber, noch Kind, erweist er sich als hart, abweisend, gefühllos. Dieser weiß seine Verzweiflung über seinen Vater nur zu begegnen, indem er dessen Armbrust, seine einzige Waffe, zerstört. Tell lebt mit seiner Familie einsam in einem Gehöft in den Bergen, Kontakt zu Freiheitskämpfern hat er nicht. 
Doch es gibt eine Gemeinsamkeit mit Schillers Tell: Auch er wird Opfer staatlicher Willkür und muss zur Selbstjustiz greifen. Und so finden sich auch bei Schmidt die berühmten Szenen von Schillers Schauspiel wieder: der verpasste Gruß des Hutes auf der Stange, der Apfelschuss vom Kopf des Sohnes, die Flucht während der Überfahrt auf dem Vierwaldstädter See, der Mord an Gessler. 
Aber sie geschehen anders, auf eine Art und wie Weise, die hier nicht verraten wird. 
Und noch etwas Entscheidendes ist anders: Schmidt interessieren nicht die „Heldentaten“, ihn interessiert die Psyche Tells. Im Laufe der Handlung zeigt sich, dass Tell unter unterschiedlichen traumatischen Ereignissen leidet, die ihn hart, gefühllos, unzugänglich gemacht haben. Und der Schuss des Apfels vom Kopf seines Sohnes wird für ihn zum Beginn der Befreiung von diesen traumatischen Ereignissen. Darin liegt die Modernität der Erzählung. 
Ungewöhnlich ist die Erzählweise des Romans: Schmidt verzichtet auf eine übergeordnete Erzählerinstanz und lässt die Ereignisse von den unterschiedlichen Handlungsfiguren in meist sehr kurzen Sequenzen aus ihrer Sicht in der Ich-Form erzählen. So entsteht für den Leser in einer Art Mosaik ein Bild von Tell und von den Zeitumständen. Merkwürdig ist nur, dass alle diese Handlungsfiguren, egal, wie jung oder alt sie sind, ob sie Bäuerin oder Soldat sind, über ein erstaunliches Sprachvermögen und erzählerisches Talent verfügen. Selbst wenn sie ihren Todeskampf beschreiben, was an sich schon seltsam genug ist, tun sie dies in grammatisch vollständigen und korrekten Sätzen. Das will irgendwie nicht recht passen. 
Die Sprache des Romans ist modern, frei von altertümlichen Begriffen. So wird ein Haudegen aus Gesslers Soldatentrupp von seinen Kollegen „Juppjupp“ genannt, weil er als Bestätigung „Jupp“ zu sagen pflegt. 
Der Roman wird vom Verlag als „Pageturner“, „Thriller“ und „Blockbuster“ beworben. Damit wird er m.E. zu einer Art Literatur degradiert, der es vor allem um den Nervenkitzel der Leserschaft geht. Der Roman von Joachim B. Schmidt hat aber mehr zu bieten, nämlich den Einblick in eine geschundene Persönlichkeit. Das macht ihn zu einer nachhaltigen Lektüre.