Rezension

Runter vom Sockel und rein ins Gebirge

Tell
von Joachim B. Schmidt

Bewertet mit 5 Sternen

Mutig, aber keineswegs despektierlich, fiktiv, aber nah dran und legendär menschlich, so nähert sich Schmidt dem schweizer Nationalhelden, den die meisten von uns wahrscheinlich aus Schillers "Wilhlem Tell" kennen. Während Schillers Personal ein Stadion füllen könnte, geht Schmidt mit seinen Human Resources etwas sparsamer um und beschränkt sich auf Tells Familie, ein paar Dorfbauern inklusive dem Pfarrer und dessen Pfrundsfrau, wenigen Soldaten und dem Landvogt Gessler, nebst seinem Vollstrecker Harras. Auch führt Wilhlem Tell in Schmidts Version nicht die Aufständischen gegen die Habsbuger Vorherrschaft an, sondern kommt dem Gessler bei einer Bergaufstieg in die Quere.
Harras Gier nach Macht und Zerstörung lässt Tell in Gesslers Namen der Wilderei beschuldigen und bei der Durchsuchung des Berghofes stößt einer der Soldaten Tells Mutter unglücklich beiseite, so dass diese kurz darauf verstirbt. Auf der Suche nach seinem entwendeten Leiterwagen und in Trauer um seine Mutter übersieht Tell den aufgespießten Hut des Lanvogts auf dem Marktplatz, dem jeder, wenn er vorüberkommt, seinen Respekt zu zollen hat. Harras nimmt das zum Anlass, Tell des Hochverrats zu bezichtigen, doch Gessler mildert das Urteil in den berühmten Apfelschuss. Tells Sohn Walter trägt das Obst auf seinem Kopf, der Vater soll aus 100 Schritt Entfernung den Apfel mit seiner Armbrust treffen... er schafft es. Doch Harras gibt so schnell nicht auf, hat er doch gesehen, wie Tell sich einen Extrabolzen eingesteckt hat. Harras behauptet, dieser wäre für den Landvogt bestimmt gewesen. Tell wird verhaftet....

Die wichtigen Eckdaten dieser Legende, die sich 1307 in der Zentralschweiz abgespielt haben soll sind vorhanden, doch befreit sich Schmidt von der Politik und lässt dem einfachen Volk Raum für ihren Überlebenskampf in der rauhen Bergwelt. Tell ist bei ihm ein Eigenbrödler mit schwieriger Vergangenheit. Er lässt seine Protagonisten in kurzen Kapiteln selbst zu Wort kommen und schafft damit eine sehr menschliche Atmosphäre in der Tell von seinem Heldensockel steigt, seine Mitmenschen vom Alltag erzählen und schließlich der gesuchte Mörder seine Familie zu schützen weiß, indem er "in den Berg geht". Kein Pathos, keine Überhöhung, stattdessen ein fester, weil nachvollziehbarer, Anker im Gedächtnis für die Schweizer Geschichtsschreibung.

Es ist mein erster Schmidt, aber nach diesem grandiosen Buch bestimmt nicht mein letzter!

Kommentare

Sursulapitschi kommentierte am 20. April 2022 um 17:24

Es gibt sie doch, die Bücher, die jeder mag. Erstaunlich, oder? 

Emswashed kommentierte am 20. April 2022 um 17:36

Erstaunlich und hoffentlich ein Vorbild für andere "Geschichtsschreiber"! ;-) (Eigentlich müssten dem Schmidt jetzt die Ohren klingeln.)

wandagreen kommentierte am 20. April 2022 um 19:33

Er braucht einen Preis!! Er kann "kurz und gut".

Deine Rezension gefällt mir gut, ich erinnere mich gerne an das Buch. Obwohl schnörkellos, nimmt es einen grandios mit. Das können nur wenige Autoren. Ich bin schon gespannt auf sein nächstes Projekt.

Naibenak kommentierte am 21. April 2022 um 08:12

Ja toll, Ems, du hast es auch geliebt :) Eine schöne Rezi! Und ein wirklich grandioses Buch, das ich nun zu meinen wenigen "Behaltis" zähle^^