Rezension

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Tell/Rasante Geschichtsstunde mit Nachhall

Tell
von Joachim B. Schmidt

Wie es sich in den Bergen gehört, gibt es ein langes Nachhallen. 5 Punkte für eine rasante Geschichtsstunde!

Mit Tell, im Diogenes Verlag erschienen, ist Joachim B. Schmidt ein besonderes Buch gelungen. Es erzählt die Sage von Wilhelm Tell, dem legendären Schweizer Freiheitskämpfer und Nationalhelden, so, als wäre man dabei gewesen. Als wäre man Augenzeuge und kenne alle etwa 20 Personen persönlich, die in fast 100 Sequenzen in den 10 Kapiteln zu Wort kommen, um die Geschichte vor dem inneren Auge ganz allmählich entstehen zu lassen. Als Leser wird man ohne Umschweife ins Jahr 1307 katapultiert. Auf den Tellenhof im Isental. Tell hat Hedwig, die Freundin seines toten Bruders, geheiratet. Sie trägt da schon Walter unter dem Herzen. Der wortkarge, unangepasste Tell übernimmt den Hof, kümmert sich und bringt die bald fünfköpfige Familie plus den beiden Müttern von Tell und Hedwig mit der verbotenen Wilderei durch die harten Winter.

„Vater gleicht einem Berg. Man kann ihn nicht verrücken, an ihm entladen sich die Gewitter, und er wirft einen langen Schatten“, sagt Walter über seinen Vater. Anfangs wird Tell als eher unsympathisch, ja unzugänglich beschrieben. Aber je mehr der Leser von den Wegbegleitern über Tell erfährt, je mehr sich die Lage mit den Habsburger Soldaten zuspitzt, desto mehr empfindet man Verständnis für Tell, der nur in drei Sequenzen ganz am Schluss zu Wort kommt. Er wächst einem regelrecht ans Herz, diese geschundene Seele von einem Mann, der seinen Bruder nicht vor den Zudringlichkeiten des Vorgängers vom Pfarrer hat beschützen können und diesen Bruder bei einem Lawinenunfall verliert.

Schiller drückte es so aus: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden bleiben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt.“ Tell wird von Harras, dem Handlanger des Landvogts, wegen seiner Wilderei, aber vor allem wegen seiner Unbeugsamkeit gefürchtet und deshalb drangsaliert und immer wieder provoziert. Harras will Tells Kopf rollen sehen. Weder der zartbesaitete Landvogt Gessler noch die trunksüchtigen Soldaten können die Provokationen und das weitere Unglück aufhalten, geschweige denn erkennen. Alles beginnt damit, dass Harras die Soldaten zum Tellenhof schickt. Sie konfiszieren Wild und einen Leiterwagen. Da droht die Situation bereits zu eskalieren. Tell soll ausrasten und Harras sieht sich schon am Ziel. Er möchte am liebsten deswegen das ganze Dorf dem Erdboden gleichmachen.

Aber es kommt anders. Grosi Marie, die Mutter Tells, stellt sich den Soldaten in den Weg und kann das Schlimmste verhindern. Doch die Folgen erschüttern die Familie und auch Tell. Marie erliegt ihren Verletzungen und die durch das fehlende Fleisch hungernde Familie muss eine Kuh auf dem Markt verkaufen, wo es zur legendären Szene mit dem Gesslerhut, den alle grüßen sollen, kommt. Tell grüßt, wie wir alle wissen, nicht. Er muss einen Apfel vom Kopf seines Sohnes schießen. Und damit ist der historische Roman in den Bergen noch lange nicht beim fulminanten Ende angelangt!

Das Buch ist aber keine Nacherzählung. Man liest es in einem Rutsch. Es ist eine besondere Geschichte auf eine wunderbar eindringliche Weise erzählt, spannend wie ein Thriller und doch auch wie eine Sozialstudie zu lesen. Alle Charaktere sind ganz genau gezeichnet und nachvollziehbar. Es ist eher eine Reportage als ein Roman. Der Leser ist wie im Geschichtsstrudel persönlich mit dabei und wird erst danach wieder im Jahr 2022 ausgespuckt. Wie es sich in den Bergen gehört, gibt es ein langes Nachhallen. 5 Punkte für eine rasante Geschichtsstunde!