Rezension

Clicks, Populismus und ein verschwundenes Mädchen

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von Marc-Uwe Kling

Bewertet mit 3.5 Sternen

Mit seinem Thriller "Views" sorgt Marc-Uwe Kling für Spannung mit aktuellen Bezügen. BKA-Ermittlerin Yasira Saad leitet die Ermittlungen im Fall einer verschwundenen 16-Jährigen. Was zunächst nicht zu alarmierend gesehen wird - es kommt schließlich immer wieder vor, dass rebellierende Teenager nach einem Streit zuhause für ein paar Tage verschwinden - bekommt Brisanz, als ein verstörendes Video auftaucht, dass eine brutale Gruppenvergewaltigung der jungen Frau durch mehrere dunkelhäutige Männer zeigt. Das Video geht viral, schnell kocht die populistische Volksseele, eine Gruppe namens Aktiver Heimatschutz bildet sich und will die Täter, oder gleich Afrikaner überhaupt jagen. Die Initialen kommen nicht von ungefähr.

Und mit der libanesischstämmigen Ermittlerin wollen auch die Innenministerin und die Behördenleitung ein Gesicht vorweisen können, das eben kein alter weißer Mann ist. Yasira und ihr Team geraten immer mehr unter Druck, je mehr populistische Strömungen die Tat aufgreifen und für ihren Hass gegen Ausländer und Asylbewerber nutzen. Demonstrationen und Gegendemonstrationen heizen zunehmende Gewaltbereitschaft auf, längst hat der Vermisstenfall eine politische Dimension erreicht.

Es ist längst keine Zukunftsvision, die Kling hier aufzeigt. Die Reaktionen auf die in Kandel von einem Asylbewerber ermordete 15-Jährige, auf den Mord an der 15-Jährigen Susanne aus Mainz vor einigen Jahren haben gezeigt, wie schnell rechtsextreme Gruppen solche Taten ausnutzen, um gegen Geflüchtete zu hetzen. Die Demonstration in Chemnitz, der Sturm auf den Reichstag, Reichsbürger und ihre Verschwörungstheorien - das ist alles keine Phantasie eines Autors. Insofern viel Gegenwartsbezüge mit einem Focus auf die Rolle der Polizei, die zwischen den Fronten aufgerieben zu werden droht und sich nach rechtsextremen Vorgängen in den eigenen Reihen um ein besseres Image bemühen muss.

In einer Szene hören Yasira und ihr Kollege Michael im Auto eine Queen-CD, Bohemian Rhapsody:"Is this the real life? Is this just phantasy?" Während die Suche nach Tätern und Tatorten zu keinerlei Erkenntnissen führt, wird das für Yasira ein Leitmotiv. Was, wenn alles ganz anders ist? Wenn der Fakt einer verschwundenen 16-jährigen, deren Instagram-Profil Bilder liefert, für einen deep Fake ausgenutzt wird? Ist das überhaupt möglich? 

Gleichzeitig wird Yasira zunehmend zur Zielscheibe von Hassfantasien selbsternannter Rächer deutscher Frauen und Mädchen - auch mit dem Hass im Netz, gerade in der frauenverachtenden und gewaltverherrlichenden Variante, ist Klings Buch sehr aktuell.

Über weite Strecken habe ich das Buch sehr gerne gelesen, am Ende allerdings hatte ich das Gefühl, dass Gewalt des drastischen Effekts willen geschildert wird, dass die Wahrscheinlichkeit des Szenarios abnimmt und das Ganze an Glaubwürdigkeit verliert, während gleichzeitig der Vermisstenfall immer mehr in den Hintergrund rückt.