Rezension

Eine starke Schwesternbeziehung - leise, unaufgeregt und auf ganz eigene Art erzählt

22 Bahnen -

22 Bahnen
von Caroline Wahl

Bewertet mit 5 Sternen

„Aber ich möchte das Einschlafen so lange wie möglich hinauszögern, weil das hier mit die besten Momente des Tages sind, die ich nicht weggeben möchte. Diese Momente, die nur mir gehören, in denen ich nichts tun, nichts denken muss, in denen ich einfach nur liegen und die abgekühlte Sommernachtsbrise durch die weit geöffneten Fenster auf mich fallen lassen darf.“

Tilda studiert Mathematik, arbeitet im Supermarkt, schwimmt nach der Arbeit im Schwimmbad 22 Bahnen und kümmert sich rührend um ihre zehnjährige Schwester Ida. Schließlich ist auf die alkoholabhängige Mutter kein Verlass, präsente Väter gibt es keine. Pflichtbewusst lebt die junge Frau ihr Leben, hofft aber, dass sich irgendwann ein Neuanfang ergeben könnte. Möglicherweise ist das Angebot eines Promotionsstudiums der Ausweg? Aber kann Tilda Ida wirklich alleine lassen?  
Im Schwimmbad trifft Tilda auf Viktor, den Bruder ihres früheren Freundes Ivans. Er schwimmt genau wie sie stets 22 Bahnen. Viktor interessiert Tilda, er gibt sich aber zunächst distanziert. Doch dann ist er da, als es darauf ankommt. 

 

Caroline Wahl schreibt direkt, klar, ungeschönt, schonungslos und mit feinem Humor in der ersten Person Präsens aus Tildas Sicht. Teilweise wird auch in Rückblenden erzählt. Der ungewöhnliche, dichte und atmosphärische Sprachstil katapultiert die Leser direkt in Tildas manchmal trostloses und eintöniges Leben hinein, das aber durchaus auch seine Lichtblicke hat. Einige Gespräche werden als Dialoge wie bei einem Theaterstück abgedruckt. Nicht nur das macht die Sprache so besonders und abwechslungsreich. Dass Tilda beim Kassieren zunächst nicht auf den Kunden, sondern nur auf die Einkäufe achtet, alle Waren akribisch aufzählt und und hinterher Preis und - meist erst nach einer kurzen Ratephase-  den Käufer nennt, finde ich sehr originell. Bestimmte Lebensmittel und Einkäufe haben für Tilda und ihre Schwester eine individuelle Bedeutung, vermitteln bestimmte Gefühle. Zwischen den Zeilen wird im Roman oft mehr erzählt als das Offensichtliche. 

 

Tilda träumt von einem anderen Leben, was immer wieder sehr deutlich geschildert wird: „Und ich weiß, dass ich diese Illusion der Freiheit genießen muss, und ich weiß, dass dieser Gedanke eigentlich schon zu viel ist. Ich will alle Gedanken ausschalten.“ Aber die Realität sieht anders aus. Auch Tilda selbst steht ihren Träumen im Weg, denn sie ist sehr verantwortungsbewusst. Sie ist nach dem Abitur zu Hause geblieben, fühlt sie sich doch ihrer Schwester Ida gegenüber verpflichtet. Ida ist nämlich wenig selbstbewusst, zurückhaltend und sehr sensibel, sie wirkt oft verloren, schutzbedürftig und verletzlich. Ida verarbeitet viele Empfindungen und Erlebnisse auf kreative Weise beim Malen. Das Mädchen entwickelt sich im Laufe der Handlung weiter, fasst Mut und Selbstvertrauen, packt Dinge an. Eine sehr tragische Figur ist die alkoholkranke Mutter, die eigentlich nie zurechnungsfähig scheint und nicht immer menschlich, manchmal sogar als Monster beschrieben wird. Und dann ist da noch Viktor, der zwar nicht viel spricht, aber für einige Überraschungen sorgt.

 

Auch wenn vieles in Tildas Leben eintönig, trist, ja stellenweise sogar aussichtslos scheint, Tilda damit hadert, immer noch in der Kleinstadt gefangen zu sein und sich die Situation zwischenzeitlich sogar noch verschlimmert, keimt nach und nach auch Hoffnung auf. Ida verlässt langsam ihr Schneckenhaus, Tilda bekommt eine berufliche Chance und gleichzeitig betritt auch noch Viktor mit sachten Schritten Tildas Bühne. Besonders gerührt hat mich die enge Bindung zwischen den Schwestern Tilda und Ida. Ein leiser, atmosphärischer, authentischer Coming of Age- Roman nicht nur für Jugendliche und junge Erwachsene. Ich habe den starken Roman mit großem Genuss gelesen und hoffe, dass die Autorin diesem gelungenen Debüt noch mehr folgen lässt.