Ein Mutmachbuch
Bewertet mit 5 Sternen
Autorin: Caroline Wahl, Genre: Fiktionale Erzählung, Verlag: Dumont, ISBN: 978-3-8321-6803-2, 4. Auflage 2023, 205 Seiten, Preis Hardcover €22,00
Die Selbstermächtigung zweier Schwestern: ein fesselndes, leuchtendes Debüt
Tildas Tage sind strikt durchgetaktet: studieren, an der Supermarktkasse sitzen, sich um ihre kleine Schwester Ida kümmern – und an schlechten Tagen auch um die Mutter. Zu dritt wohnen sie im traurigsten Haus der Fröhlichstraße in einer Kleinstadt, die Tilda hasst. Ihre Freunde sind längst weg, leben in Amsterdam oder Berlin, nur Tilda ist geblieben. Denn irgendjemand muss für Ida da sein, Geld verdienen, die Verantwortung tragen. Nennenswerte Väter gibt es keine, die Mutter ist alkoholabhängig. Eines Tages aber geraten die Dinge in Bewegung: Tilda bekommt eine Promotion in Berlin in Aussicht gestellt, und es blitzt eine Zukunft auf, die Freiheit verspricht. Und Viktor taucht auf, der große Bruder von Ivan, mit dem Tilda früher befreundet war. Viktor, der – genau wie sie – immer 22 Bahnen schwimmt. Doch als Tilda schon beinahe glaubt, es könnte alles gut werden, gerät die Situation zu Hause vollends außer Kontrolle.
>22 Bahnen< ist eine raue und gleichzeitig zärtliche Geschichte über die Verheerungen des Familienlebens und darüber, wie das Glück zu finden ist zwischen Verantwortung und Freiheit. (Klappentext)
Die Geschichte ist eine Ich-Erzählung. Tilda, eine junge Mathematikstudentin hat es schwer. Ihr Vater ist abgehauen und zahlt keinen Unterhalt. Nachdem er weg war begann ihre Mutter zu trinken. Mit der Zeit immer mehr. Jetzt liegt sie meistens unansprechbar auf dem Sofa oder sucht Streit. Das alles wäre an sich nicht Tildas größtes Problem. Ihre geliebte kleine Schwester Ida kann sich jedoch gegen “Monster-Mama” nicht wehren, gerät immer wieder zwischen die Fronten aus Rausch und Frust und läuft schon mal weg.
Tilda muss sich ihr Studium selbst verdienen, deshalb sitzt sie jeden Tag an der Kasse eines Supermarktes und scannt Lebensmittel ein. So oft sie kann fährt sie ins Schwimmbad und schwimmt 22 Bahnen. Wenn sie nicht sicher ist, ob sie richtig gezählt hat, hängt sie zur Strafe noch zwei dran, dabei begegnet ihr zwangsläufig Viktor (mit K), der große Bruder von Iwan, der ihr Freund war, bevor es passierte.
Ich mag den Erzählstil sehr:
Ich weiß natürlich, dass ich alarmiert sein muss, dass sie (Mutter) dieses Level an Aktivität nicht lange halten kann und dass wir keine Abendbrottisch-Familie sind, aber ein bisschen darf ich ja auch träumen.
Sie lässt uns Tildas Emotionen miterleben, ihre Wut, ihre Verbundenheit, ihre Verliebtheit und ihre Erschöpfung, wenn sie an den Rand des Schaffbaren gerät. Zeichnet schöne plastische Charaktere, die ich auch gerne kennengelernt hätte.
Obwohl einige emotional belastende Situationen passieren, schreibt die Autorin sich gekonnt schleichend and die Szenen heran und bereitet uns langsam darauf vor. Ich mag, wie die Autorin immer wieder zum Supermarkt springt und Tilda die Waren übers Band ziehen lässt. Und wie Tilda anhand der Produktpalette errät, wen sie vor sich hat, bevor sie nach oben schaut.
Fazit: Caroline Wahl hat etwas schönes geschaffen. Sie erzählt uns von Verantwortung und bedingungsloser Liebe. Von der Schwere des Erwachsenwerdens und einer gestohlenen Jugend. Es ist ein Buch, das Mut macht.
Die Autorin: CAROLINE WAHL wurde 1995 in Mainz geboren und wuchs in der Nähe von Heidelberg auf. Sie hat Germanistik in Tübingen und Deutsche Literatur in Berlin studiert. Danach arbeitete sie in mehreren Verlagen. -22 Bahnen- ist ihr Debütroman. Caroline Wahl lebt in Rostock