Rezension

Das Leben zu meistern wissen

22 Bahnen -

22 Bahnen
von Caroline Wahl

Ein Herzensbuch!

Tilda studiert Mathe, arbeitet an der Supermarktkasse und geht schwimmen. Ganz nebenbei kümmert sie sich noch um ihre kleine Schwester Ida. Ihre Mutter ist Alkoholikerin. Väter gibt es keine mehr. Nun hat Tilda die Aussicht auf eine Promotionsstelle. In Berlin. Was soll da aus Ida werden, die gerade erst auf das Gymnasium gekommen ist und eher verträumt und zurückhaltend scheint? Und dann ist da noch Viktor, der eigentlich so gar nicht in Tildas streng getaktetes Leben passt, das schon ein nichtfunktionierender Kopierer in der Uni aus dem Lot bringen kann
Tilda ist die beeindruckende Hauptfigur und Erzählerin in Carolina Wahls Debütroman „22 Bahnen“. Noch so jung, aber schon so erwachsen, so zielstrebig, so klug, so verantwortungsbewusst, so warmherzig und so empathisch im Umgang mit ihrer kleinen Schwester. Was sie sich ausdenkt, um diese für das Leben mit ihrer Mutter zu rüste, wenn Tilda in Berlin sein sollte, ist einfach umwerfend. Und trotzdem ist Tilda eben auch jung, auf der Suche, will leben und feiern. Sie wirkt nicht wie eine Kunstfigur, sondern wie eine Person aus Fleisch und viel Herzblut, die man gern zur Freundin oder eben zur großen Schwester hätte. Aber auch Ida ist ein toller Charakter, den die Autorin da geschaffen hat: eigenwillig, kreativ, originell, sehr sensibel, aber viel stärker als sie und Tilda selbst es für möglich gehalten haben. Beide richten sich - trotz der schweren Umstände – die aggressive, ichbezogene, von Depressionen geplagte Mutter, die am Leben verzweifelt und ihre Töchter im besten Falle gar nicht wahrzunehmen scheint – in ihrem Leben ein, sie führen ein gutes Leben als Schwesternfamilie und reifen zu tollen Menschen heran. Es gibt kein Leiden und Klagen, kein Selbstmitleid, sondern der Roman vermittelt einen solchen bodenständigen Optimismus und ein Gewissheit um das gelingende Leben, wie ihn Ida selbst in Worte fassen kann, wenn sie zu ihrer Mutter sagt: „Wir wissen, dass du es ohne Hilfe nicht schaffst, und wir wissen, dass wir es ohne dich und auch mit dir schaffen.“ Wer braucht da noch Lebenshilfe- oder Glücksratgeber, wenn er dieses schmale Bändchen lesen kann.
Der Stil wechselt von schlicht, rau und sehr  neuhochdeutsch, sodass der ältere Leser bisweilen mein, ein Wörterbuch zu brauchen, hin zu magisch-poetisch, wenn Tilda Stimmungen in der Natur spiegelt und die wunderschönen Zeichnungen ihrer kleinen Schwester beschreibt, die die Wirklichkeit in Märchen spiegelt, ein Spiel, das die beiden bis zur Perfektion beherrschen.
Ein ruhiges Buch, ein tief rührendes Buch, ein Herzensbuch!