Rezension

Wenn Kinder die Elternrolle tragen müssen

22 Bahnen -

22 Bahnen
von Caroline Wahl

Bewertet mit 5 Sternen

Tilda hat nur den Moment vor dem Einschlafen für sich allein. Sie studiert Mathematik, hat herausfordernde Prüfungen vor sich, arbeitet an der Supermarktkasse – und hat eine alkoholkranke Mutter und ihre schüchterne jüngere Schwester zu betreuen. In ihren Tagesplan scheint selbst ihr Schwimmtraining nicht mehr zu passen, für das sie weite Wege auf sich nimmt und in der Bahn ihre Aufgaben erledigt. Eines Tages taucht im Schwimmbad Viktor Wolkow auf, die grimmigere Ausgabe seines jüngeren Bruders Ivan. In Hamburg soll Viktor Karriere in der IT-Branche gemacht haben.  Mit Viktor wird die verdrängte Erinnerung wieder lebendig an einen zurückliegenden Sommer und Ivans Tod. Nachdem Tilda Viktor gesichtet hat, schwimmt sie zum ersten Mal eine Bahn mehr als sonst. Hat die Begegnung sie so aus dem Konzept gebracht oder nimmt sie gerade mit der einzigen in Mathematik ebenbürtigen Person einen sportlichen Wettkampf auf? Wenn Marlene, Tildas ehemals allerbeste Freundin, zu Besuch in die alte Heimat einfällt, wird stets deutlich, dass Tilda weder in einer anderen Stadt studieren noch in Urlaub fahren kann. Selbst ohne eine kleine Schwester geht.es.nicht. Dass Marlene  Idas Mathestudium als  Abkehr vom Leben wertet, verbessert die Situation  nicht gerade.

Als Marlenes Professor sie nach dem Masterabschluss für ein Promotionsstudium in Berlin empfehlen will, scheint der Plan völlig unmöglich. Selbst wenn es unkonventionelle Hilfsangebote geben würde für junge Erwachsene in der Rolle des Familienoberhaupts, wäre das ebenso wenig Tildas Stil wie Hoffen auf ein märchenhaftes Ende. Sie kann ihre unberechenbare Mutter nicht mit Ida allein lassen. Doch durch den Kontakt zu Viktor hat das labile Gleichgewicht in Tildas Familie sich in unerwartete Richtung in Bewegung gesetzt. Während sie ein Training für Ida entwickelt, das sie aus ihrer Vereinsamung herausholen soll, muss Tilda sich eingestehen, dass Ida mit inzwischen 10 Jahren eine eigene Persönlichkeit ist, keine kleinere Ausgabe ihrer selbst. Als Person, die bisher für die Welt der Zahlen gelebt hat, konnte Tilda mich mit der Einsicht überraschen, dass sie selbst loslassen muss, und mit ihrem pädagogischen Händchen für Ida.

In Tildas Familie gibt es nur kurze Pausen der Normalität. Die Situation kann jederzeit  kippen – und Tilda mit einer zusammengebrochenen Mutter und einer verängstigten Schwester konfrontieren. Das tägliche Bangen, dass hoffentlich nichts schief gehen wird, hat mich als Leserin durch das Buch getrieben. Manchmal hätte ich mir gewünscht genauer zwischen der Gegenwart und Tildas Rückblicken differenzieren zu können. Die normalverrückte Situation einer Studentin, der ungefragt die Mutter- und Betreuerrolle aufgeladen wird, umfasst circa die Zeit zwischen Tildas 14. Und 24. Lebensjahr. Da die Lösung für die Beteiligten nicht aus einem finanzkräftigen Wohltäter besteht,  der aus heiterem Himmel auftaucht, sondern aus der Entwicklung der Figuren, finde ich den mitreißenden Roman auch für Jugendliche ab 14 empfehlenswert.