Rezension

Sprung in die Vergangenheit

Stealing Infinity -

Stealing Infinity
von Alyson Noël

Bewertet mit 3 Sternen

Es geht eine Faszination von Dingen aus, die wir Menschen nicht können. Manchmal spornt uns das an, doch einen Weg zu finden und es werden krasse Sachen erfunden: das Rad, das Boot, die Eisenbahn, das Auto, der Flieger, die Rakete. Einmal zum Mond und zurück. Mit Überschallgeschwindigkeit durch die Luft. Manche Erfindungen setzten sich langfristig nicht durch, weil zu unberechenbar. Mit einem Zeppelin würde zum Beispiel heute niemand mehr von uns reisen. In manchen Bereichen sind wir auch noch nicht weiter gekommen. Einsteins Relativitätstheorie hat zwar die Physik revolutioniert, aber durch die Zeit zu reisen, bleibt weiter ein Traum. Kein Wunder also, dass sich in Literatur und Film so gern mit diesem Thema auseinandergesetzt wird. Es ist das alte Spiel von „was wäre, wenn?“ Wie hätte sich die Welt weitergedreht, wenn bedeutende geschichtliche Ereignisse anders verlaufen wären? Hätte sich die Welt weitergedreht? Kann ich mein Leben zum Besseren verändern, wenn ich meinem jüngeren Ich nachträglich Hilfestellung geben würde? Oder mache ich dann alles nur viel, viel schlimmer? Es gibt so viele Paradoxe, wenn man sich mit Zeitreisen auseinandersetzt. Herrliche Knoten im Kopf, bei der Überlegung, welche Auswirkungen es hätte, sich selbst in der Zeit zu begegnen oder die Geschichte seiner Familie zu verändern, in die man dann gar nicht hineingeboren werden könnte und somit nicht existiert und damit auch gar nicht in die Zeit reisen könnte und nicht für die Veränderung sorgen könnte und, und, und schon hat man Kopfschmerzen.

Alyson Noël hat den Sprung gewagt und sich in ihrer neuen Fantasy-Reihe mit dem Zeitreisen befasst. Ihre Protagonistin Natasha wird aus ihrem trostlosen High School Leben gerissen und auf eine geheimnisvolle Academy gebracht, in der die jugendlichen Schüler für das Zeitspringen trainiert werden. Erste Liebe, rivalisierende Freundschaften und Designergarderobe aus allen Zeiten füllen den Plot, in dem viel angedeutet und wenig enthüllt wird über die Gray Wolf Academy. Ein klassischer Auftakt für ein neues Fantasy-Abenteuer.

Grundsätzlich finde ich Noëls Plot ganz interessant, wenn mir auch nach 570 Seiten noch nicht ganz klar ist, wie und warum genau das Zeitspringen funktioniert und vor allem, warum Jugendliche diese Sprünge absolvieren müssen. Es ist ein wenig dicht dran an der Edelstein-Trilogie von Kerstin Gier, die Figur der Natasha kann leider nicht ganz mit Giers Heldin Gwendolyn mithalten. Wobei auch Natasha offenbar genetische Besonderheiten aufzeigt, die mit dem Zeitreisen zu tun haben.

Keine Frage, „Stealing Infinity“ ist als Pageturner konzipiert. An der Seite von Ich-Erzählerin Natasha erfahren wir Leser nur so viel, wie wir auch wissen sollen, um am Ball zu bleiben und die Spannung aufrecht zu erhalten. Für den Lesefluss wurden die Kapitel schön kurz gehalten, so dass permanente kleine Cliffhänger uns auch wirklich immer zum Weiterblättern anhalten. Die wichtigsten Zutaten für einen Jugendroman sind eingebaut: Love Interest, Freundschaft und Verrat. Aber ich werde dennoch mit der Geschichte nicht richtig warm. Mir ist das alles nicht gut genug verpackt. Ich möchte als Leser eingefangen werden von dieser fiktiven Welt und ihren Figuren und möglichst nicht mitbekommen, dass es Fiktion ist, die sich jemand ausgedacht hat. So wie ich im Kino über die Special Effekts staunen will, weil sie alles so real aussehen lassen, obwohl ich natürlich weiß, dass ich im Kino sitze. Die Computeranimation will ich aber nicht erkennen können, die zerstört ja meine Illusion. Alyson Noëls szenisches Erzählen lässt mir kaum Raum für meine eigene Illusion, mein eigenes Kopfkino. Mir fehlt die zweite, tiefere Ebene hinter dem einfachen Erzählen von Handlungsabläufen. Die Aktionen und Gefühle der Figuren sind mir zu eindimensional, zu vorhersehbar, zu aufgesetzt. Viele Wendungen sind mir zu stark konstruiert und zum Teil einfach nicht schlüssig. Alles ist auf Oberflächlichkeit ausgelegt. Die Figuren sind alle attraktiv und begehrenswert so wie die Kunst und das Geschmeide, dass sie in der Vergangenheit für ihren großen Sponsor stehlen sollen. Wo sind die Ecken und Kanten? Das Unvorhersehbare, die Fehlbarkeiten?

Ich sehe, wohin Alyson Noëls Reise gehen soll, welche große Idee sie verfolgt, aber in der Umsetzung hat sie es sich zu einfach gemacht und unterschätzt zudem ihre Leser deutlich. Es fällt mir schwer, das nicht persönlich zu nehmen.