Rezension

Drei Leben bleiben

Morgen, morgen und wieder morgen -

Morgen, morgen und wieder morgen
von Gabrielle Zevin

Bewertet mit 4 Sternen

Auf dem Klappentext meines Leseexemplars zu Gabrielle Zevins Roman steht „Ein literarischer Blockbuster, der das Zeug zur Great American Novel hat.“ Mit dem Blockbuster gehe ich sofort mit. Lässt man sich auf die Geschichte ein, dann taucht man direkt ein in dieses komplexe Universum aus Freundschaft, Computerspiele, Liebe, Einsamkeit und Erfolg in all seinen Licht- und Schattenseiten. Die Erzählweise ist absolut einnehmend, clever werden Gegenwart mit Rück- und Vorausblenden gemischt, Perspektiven gewechselt, Figuren entwickelt. Figuren, die einem nicht durchgängig sympathisch sind, deren Perspektive man mitunter anzweifelt und doch hängt man an ihren Lippen und will wissen, was als nächstes kommt. Sadie und Sam kennen sich seit ihrer Kindheit. Aufgewachsen in unterschiedlichen Stadtbezirken der Metropole L.A. treffen sie sich zufällig in einem Kinderkrankenhaus und werden Freunde. Eine Freundschaft, in der es vor allem um Spiele geht – zocken an der Konsole, am PC, am Automaten, am Gameboy. Über das gemeinsame Spielen bauen die beiden Außenseiter eine besondere Bindung zueinander auf, die ihnen beiden in einer schwierigen Phase hilft. Aus Gründen verliert sich der Kontakt, bis Sam Sadie in seiner Studienzeit wiedertrifft und die Freundschaft neu aufflammt. Zugpferd bleibt das Zocken. Sadie will Spieledesignerin werden, hat vielversprechende Ideen und gemeinsam mit Sam und seinem Mitbewohner Marx schaffen sie tatsächlich den Durchbruch auf dem Spielemarkt. Doch mit dem Erfolg brechen plötzlich Rivalitäten auf und bedrohen die sensible Freundschaft.

Mich begeistert Gabrielle Zevins Roman. Ich will nichts bemängeln, keine Stereotypen benennen, keine Figuren in ihrer Ausarbeitung kritisieren, keine Handlung anzweifeln. Ich bin ganz drin in der Geschichte, will Sadie durchrütteln und zum Reden bringen, will Sam zwingen, sich zu offenbaren, seine Verletzlichkeit und Hilfebedürftigkeit anzusprechen, Hilfe zu fordern und anzunehmen, und ich will Marx in den Arm nehmen, ihm den Rücken stärken, ihm auf die Schultern klopfen. Computerspiele spielen will ich nicht, aber ich finde das Erzählen über ihre Entwicklung erstaunlich spannend und kein bisschen nerdig. Zevins Geschichte um die Freundschaft ihrer Figuren erinnert mich sehr an Hanya Yanagiharas Roman „Ein wenig Leben“. Sam ist weit von der Schwere und der existenziellen Verzweiflung entfernt, die Jude bei Yanagihara durchleben muss. Aber auch sein Schmerz macht ihn sprachlos und stur bis zur Ignoranz seines physischen Zustands. In seiner Freundschaft zu Marx, der ihn sofort durchschaut, ins Herz schließt, respektiert und Hilfe bietet, die Sam zulassen kann, erkenne ich ähnliche Züge wie in der Freundschaft zwischen Willem und Jude. Mit Sadie ist es komplizierter. Sie erscheint mir sehr ambivalent, ich schwanke bei ihr ständig zwischen Sympathie und Antipathie. In ihrer Persönlichkeit ist eine Schwere, eine Dunkelheit angelegt, die sich nicht wie bei Sam aus einer körperlichen Einschränkung begründen lässt. Auch sie leidet wie Sam an einer gewissen Sprachlosigkeit, wenn es um die wichtigen Dinge in ihrem Leben geht. Die fehlgeleitete Kommunikation in der Geschichte ist wohl neben den Computerspielen das zweite große, tragende Thema und nimmt mich als Leserin richtiggehend mit.

Zevins Erzählen ist episch, klug, gewitzt, humorvoll, warmherzig und bissig. Und dennoch lässt sie einen Hauch Distanz zu, hält mich als Leser auf einen angenehmen Abstand, so dass ich mich zwischen den drei Figuren nicht verlieren kann. Das ist für mich großes Erzählen – unterhaltsam nachdrücklich.