Rezension

Lesehighlight 2013: Joelle Charbonneau – Die Auslese

Die Auslese - Joelle Charbonneau

Die Auslese
von Joelle Charbonneau

Bewertet mit 5 Sternen

Atemlos sitzt sie in ihrem Sessel, starrt ungläubig auf die letzten jener Worte, welche sie in den letzten Stunden begleitet haben. Ihr Herzschlag hämmert bis zum Hals hinauf. Ihr Verstand sträubt sich gegen die Wahrnehmung, dass all dies so plötzlich zu Ende sein soll. Nur langsam findet sie zurück in die Realität – sie bemerkt, dass sie die Worte noch fest umklammert, beinahe so, als wolle sie noch ein paar Zeilen mehr heraus pressen...

Das war sie also – meine gemeinsame Reise mit Malencia Vale. Ich habe gelitten mit ihr, ich habe gestaunt mit ihr – ich war eins mit ihr. Und es fällt mir unendlich schwer, jetzt loszulassen.

Vor wenigen Minuten habe ich Joelle Charbonneaus ersten Band einer neuen Endzeit-Trilogie namens »Die Auslese: Nur die Besten überleben« mit einem widerstrebenden Seufzen zugeklappt – wohl wissend, dass dies nun vorerst die letzten Zeilen sein würden. Ich bin noch völlig berauscht von all den Eindrücken, seit ich vor drei Tagen die erste Seite umgeblättert habe. Dieses Buch zieht einen in seinen Bann – es ist intensiv. Welch Lesevergnügen – nein – Leseerlebnis! Ich kann nicht umhin, als erst einmal tief durchzuatmen und mich zu lösen.

Nur die Besten überleben, gehörst du dazu?

Ein Jahrhundert nach dem großen Krieg sind die Nachwirkungen des Konflikts allerorts deutlich spürbar. Forscher versuchen, den verseuchten Erdboden wieder urbar, Wasser wieder genießbar und die Pflanzenwelt wieder nutzbar zu machen. Inmitten dieses Nachkriegschaos wächst die 16jährige Malencia Vale in einer der kleinsten Kolonien des Landes namens Five Lakes, benannt nach den ehemaligen großen Seen der Gegend, fernab der größten Kolonie auf. Cia, wie sie liebevoll von Familie und Freunden genannt wird, wünscht sich kaum etwas sehnlicher, als sich für die Auslese zu qualifizieren und an der großen Universität zu studieren; sie möchte etwas dazu beitragen können, für ihr Land, für ihre Familie und besonders für ihren Vater. Als die junge Frau tatsächlich für dieses Privileg ausgesucht wird, ist sie stolz und blickt doch gleichzeitig mit Furcht der bevorstehenden Prüfung entgegen. Der Wettkampf um die begehrten Plätze an der Universität in Tosu City entwickelt sich schnell zu einem gnadenlosen Kampf um Leben und Tod, denn nur die Besten überleben!

Dieses Buch ließ mich fühlen!

Ich bin ein großer Fan von Dystopien, denn die Vorstellung, inmitten einer zerstörten, postapokalyptischen Welt um sein nacktes Überleben und seine Daseinsberechtigung zu kämpfen, übt einen unwiderstehlichen Reiz auf mich aus. Und in diesem Buch bilden Nervenkitzel, schwermütige Einsamkeit und lebensgefährliche Abenteuer die perfekte Symbiose.

Schon der Klappentext des Trilogieauftaktes versprach eine spannende Story und tödliche Gefahren. Das Cover verführt mit der düsteren Farbaufnahmeeines Mädchens. Misstrauisch und auf alles gefasst blickt es mich mit seinen blauen Augen an, die Waffe in ihren Händen haltend, den Finger am Abzug. Auf ihrem Arm sieht man eine Schärpe, darauf eine Plakette mit einem achtzackigen Stern – ein wichtiges Detail. Während das englische Originalcover diesesEmblem lediglich andeutet, bekommt man als Leser der deutschen Ausgabe schon einen eindrucksvollen visuellen Reiz präsentiert, welcher gemeinsam mit dem absolut gelungenen Buchtrailer des Penhaligon Verlages vollendet wird.

Imposant wie ein Kinofilm!

Der starke Plot erschuf mit seinem bildgewaltigen, eloquenten Schreibstil und hochinteressanten Charakteren ein intensives Kopfkino, welches mich ganz und gar zwischen die Seiten zog und mich die Realität außerhalb der Buchwelt vergessen ließ. Ich wurde Teil dieser verseuchten Umwelt, verschmolz mit der Protagonistin, fühlte ihre Angst – ihr Adrenalin, spürte all ihr Misstrauen in mir selbst aufkeimen. Wem konnten wir noch vertrauen? Wer spielt Katz und Maus mit uns? Wer meint es ehrlich? Die Autorin versteht es meisterlich, mit den Urängsten eines Menschen zu spielen und dringt dabei immer tiefer in die Psyche des Lesers vor. Wie oft kribbelte es in meinem Nacken? Wie oft rieselte ein angespannter Schauer über meinen Rücken. Ich weiß es nicht mehr.

Mein Herz rast vor Aufregung, obwohl es gerade in zwei Stücke zerbrochen ist. Die gleichen widerstreitenden Gefühle kann ich auch auf den Gesichtern der anderen Kandidaten aus Five Lakes sehen. [...]Wir sind nun keine Jugendlichen mehr, sondern Erwachsene. Doch erst diese Reise macht den Übergang unumkehrbar. Von nun an sind wir auf uns gestellt. – Seite 63

Joelle Charbonneau wählte nicht ohne Grund die Ich-Perspektive. Diese verstärkt die nachhaltige, emotionale Verbundenheit mit der Hauptfigur. Obgleich diese erst 16 Jahre alt ist, sorgt sie ob ihrer reifen Charakterzüge und ihren wohlüberlegten Aktionen für reichlich Identifikationspotential. Selten konnte mich ein jugendlicher Charakter derart begeistern wie Miss Vale. Cia handelte logisch, reagierte selbst in den schwierigsten Situationen umsichtig und überzeugte mit Kombinationsdenken und klarem Verstand. Beeindruckend empfand ich ihre Entwicklung und Fähigkeit zur Selbstreflektion. Es war schon recht früh ersichtlich, welch großes Potential diese junge Dame in sich birgt. Sie nahm mich an die Hand und kämpfte sich mit mir gemeinsam durch die Auslese, ihr Ziel stets klar vor Augen: Überleben!

Gnadenlos spannend!

Dieser Weg stellt Cia auf eine harte Probe und führt sie an den Rand der Verzweiflung, lässt sie die Abgründe der menschlichen Seele erkennen und dem Tod ins Auge blicken! Jeder noch so kleine Fehler zieht harte Strafen nach sich, denn es gilt die Besten unter den Besten herauszufiltern. Das Komitee der Auslese ist gnadenlos. Man ist gewagt zu sagen, dass dies wohl auch in solch schweren Zeiten, in der die Menschheit selbst ums Überleben auf einem unwirtlichen Planeten kämpft, erforderlich – ja, unabdingbar ist. Doch die schiere Grausamkeit und Härte dieser Prüfung schockierte mich, denn immerhin sind es junge Menschen. Doch die Verantwortlichen sind der festen Überzeugung, dass dieser Test in all seiner Erbarmungslosigkeit absolut notwendig ist, um auszuschließen, dass weitere schwerwiegende Fehler gemacht werden – Fehler von Machtgierigen im Vereinigten Commonwealth, welche in der Vergangenheit nicht in der Lage waren, die Katastrophe und den Konflikt zu verhindern.  Die Originalausgabe wird übrigens für Leser ab 12 Jahren eingestuft, eine Altersempfehlung der deutschen Ausgabe liegt zu diesem Zeitpunkt noch nicht vor, allerdings würde ich das Buch aufgrund der vorhandenen Brutalität meiner Tochter (fast 12 J.) noch nicht in die Hand geben.

Joelle Charbonneau schreibt aus tiefstem Herzen, hingebungsvoll und absolut eins mit ihrer Idee, ihren Figuren. Man merkt ihr die Bühnenerfahrung ihres Berufs als Opernsängerin an. Sie besitzt die Gabe, visuelle Eindrücke hervorragend und anschaulich in Worte zu fassen. Wie von selbst kreiert sie auf diese Weise Bilder, welche eindringlicher kaum sein können. Ihre Idee basiert auf der menschlichen Schwäche, Fehler unzureichend reflektieren zu können, sich über die Konsequenzen ihres Handelns klar zu werden. Die Natur richtet sich früher oder später gegen die Menschheit, wenn wir fortwährend Lebensraum zerstören und nur darauf bedacht sind, Macht auszuüben, koste es was es wolle.

Ich bin alles andere als stolz darauf, aber immerhin habe ich eben erfahren, dass ich nicht nur aufbrausend sein kann, sondern mich auch Hals über Kopf in Gefahr begebe, nur um zu beweisen, dass ich recht habe. Vielleicht muss ich auch noch ein bisschen erwachsener werden. – Seite 295

Ausgebrannte Ruinen, von Ruß bedeckte Straßen und ehemals blühende Großstädte, welche sich die Natur trotz radioaktiv verseuchter Umwelt langsam zurückerkämpft – dies ist Joelle Charbonneaus zu Papier gebrachte Konsequenz eben jener verantwortungslosen menschlichen Gebaren. Gewaltige Erdbeben ließ die ausgedorrte Erde reißen, verwandelten die Landschaft in eine karge, unwirtliche Wüste. Einzig die Kolonien, wie auch Cias Heimatkolonie Five Lakes, bilden so etwas wie grüne Oasen der Hoffnung inmitten eines ausgezehrten Landes. Elektrizität wird streng rationiert, Alkohol ist Luxus. Wir befinden uns in einer Zeit, 100 Jahre nach dem großen Konflikt, in welchem Tausende von Toten zu beklagen waren. Ein Krieg, der seinen Ursprung im Tod eines Regierungsmitglieds in Asien fand. Die Hintergründe dieses Krieges hat die Autorin geschickt in den Handlungsverlauf eingeflochten, ohne mich seitenweise mit Details zu überhäufen.

»Die Auslese« fesselte mich vom ersten bis zum letzten Wort, ohne auch nur einmal an Spannung einzubüßen. Der Puls beschleunigte sich beim Lesen, intensive Einblicke in die Psyche der Protagonistin und der schier unerbittliche Konkurrenzdruck eines jeden Kandidaten forderten meine stete Aufmerksamkeit. Und über all dem schwebte stets eine Warnung, gleich einem Damoklesschwert:

Cia, du kannst niemandem vertrauen! – Seite 62

Es war wirklich pures Vergnügen, ein Buch lesen zu können, das aus der literarischen Masse mit Bravour hervorsticht und sich ohne Probleme an der Spitze des Genres positionieren kann. Aktuell ist der Bedarf an Dystopien eigentlich gesättigt, da wir derzeit von literarischen Weltuntergangsszenarien nur so überschwemmt werden und nicht wirklich viele Vertreter dieses Genres ihren Platz auf den Bestsellerlisten verdient haben. »Die Auslese« lässt ihre Konkurrenz mit seiner sehr düsteren, aber durchaus realistischen Zukunftsaussichtlocker hinter sich und feiert jetzt bereits Begeisterungsstürme unter uns Bloggern, welche das Glück hatten den Trilogieauftakt vorab lesen zu dürfen. Auf den Folgeband müssen wir nun noch ein wenig warten, denn auch die Originalausgabe erscheint erst im Januar 2014. Spekulationsstoff bietet der erste Band zu Genüge, das dürfte uns Leser bis zum Erscheinen des nächsten Buches der Reihe auf Trab halten.

Zudem gibt es aufregende News für Kinofans, denn die Trilogie wird verfilmt! Paramount Pictures hat sich die Rechte gesichert und wird den spannenden Stoff auf die Kinoleinwände bringen. Ich bin höchst gespannt, wie das Ergebnis aussehen wird, wer für die Hauptrollen gecastet wird und wie Joelle die Umsetzung in bewegten Bildern gefallen wird!

Mein Fazit: Ein Buch, so explosiv wie seine Grundidee, von der ersten Seite bis zum letzten Wort. Ein Buch, das für zahlreiche Überraschungsmomente sorgte und welches noch lange nach dem Lesen wie ein Kinofilm vor dem inneren Auge abläuft. Ich gebe es ehrlich zu, ich habe von Joelle Charbonneaus Buch geträumt, in der Nacht, nachdem ich es beendet hatte. Das passiert mir höchst selten! Ich danke der Autorin für dieses einmalig intensive Lesevergnügen und kann es gar nicht erwarten, Malencia Vales Lebensgeschichte weiter zu verfolgen! Das Ende des ersten Bandes lässt auf eine kraftvolle Fortsetzung der Trilogie hoffen!