Rezension

Ein ganz besonderes Buch

Ein ganzes halbes Jahr - Jojo Moyes

Ein ganzes halbes Jahr
von Jojo Moyes

"… Will Traynor, 35 Jahre, ehemaliger Teilhaber der Firma Madingley Lewis in der City of London (…) erlitt im Jahr 2007 bei einem Verkehrsunfall eine Rückenmarksverletzung und wurde als C5/C6-Querschnittspatient mit nur noch sehr eingeschränkten Bewegungsfähigkeiten eines Armes diagnostiziert ...“ S. 512

Zum Inhalt

Louisa Clark ist 27, lebt in einem winzigen Zimmer im Haus ihrer Eltern und unterstützt sie mit ihrem Gehalt, das sie sich in dem netten Pub Buttered Bun verdient. Als der Laden schließt und gleichzeitig die Entlassung ihres Vaters droht, scheint das einzige vermittelbare Jobangebot für Louisa das einer Pflegekraft für einen Rollstuhlfahrer zu sein. Sie geht mit widersprüchlichen Gefühlen zu dem Vorstellungsgespräch, ohne eine Ahnung, auf was sie sich da genau einlässt. Die Mutter des Patienten, Camilla Traynor, ist eine schwierige, anmaßende Person – doch das Gehalt ist überdurchschnittlich gut und Lou weiß, dass sie diesen Job dringend braucht.

Nachdem sich jedoch herausstellt, dass der zu betreuende Mann, Will Traynor, ein verbitterter, sarkastischer Kerl ist, der ihr mit jedem Wort, mit jeder Geste zeigt, dass er sie nicht um sich haben will, steht sie kurz davor, diesen Job zu kündigen. Als Will´s Exfreundin und ein gut befreundeter Arbeitskollege ihn besuchen, belauscht Louisa einen Teil des Gesprächs und zum ersten Mal kann sie erahnen, welches Leid er in den letzten zwei Jahren durchleben musste. Sie beginnt, ihre Einstellung ihm gegenüber zu ändern und verstrickt sich immer mehr in das Leben und die Gefühle von Will, die ihn seit dem Unfall zu überschwemmen drohen. Diese Veränderung wirkt sich nicht nur auf Louisa aus, auch Will scheint einen Wandel zu durchlaufen und zum ersten Mal seit dem Unfall scheint sein Leben wieder an Bedeutung zu gewinnen.

Meine Meinung

Ich lese eigentlich keine Liebesromane, und auch keine tragischen Geschichten – eigentlich. Nachdem ich in den letzten Wochen und Monaten wirklich überall auf dieses Buch gestoßen bin und nur gute Meinungen darüber gehört habe, wollte ich mir zumindest einmal die Leseprobe auf meinen Reader laden und, was soll ich sagen, sie hat mich sofort in den Bann gezogen.

Als ich endlich vor zwei Tagen das Buch in die Hand genommen habe, konnte ich nicht mehr aufhören zu lesen. Es ist flüssig geschrieben, man ist sofort in der Geschichte drin und die Seiten fliegen nur so dahin. Berührend und mit sensibler Ehrlichkeit wird diese ergreifende Beziehung erzählt, die sich zwischen Louisa und Will entwickelt, alles, was passiert, fühlt sich echt und wirklich an.
 
Die Handlung lebt von den Charakteren. Louisa hat ein eintöniges Leben. Sie steht immer etwas im Schatten ihrer Schwester, muss ihre Eltern mit Geld unterstützen und hat in deren Haus nicht einmal ein normales Zimmer für sich. Seit 7 Jahren ist sie mit ihrem Freund Patrick zusammen, obwohl sie überhaupt nicht weiß, was sie wirklich an ihn bindet. Louisa war mir sofort sympathisch – gerade weil sie ein ganz "normales" Leben führt und dennoch eine außergewöhnliche Kraft in sich trägt, die man ihr am Anfang gar nicht zugetraut hätte. Die Arbeit mit Will reißt sie aus ihrem jahrelangen Trott. Sie wird offener, hinterfragt plötzlich existenzielle Dinge in ihrem Leben und wird sich der Oberflächlichkeit ihrer langen Beziehung mit Patrick bewusst.

„Es kam mir vor, als würde ich ein Leben führen, über das ich vorher nicht hatte nachdenken können.“ S. 343

Will hingegen ist ein gutsituierter Mann; vor dem Unfall beruflich erfolgreich und überheblich, ein vom Leben verwöhnter Snob, der es in vollen Zügen genossen hat.

„Ja. Aber zu meiner Verteidigung kann ich vorbringen, dass ich ein Arschloch war.“ S. 382

Dieser Schicksalsschlag hat ihn innerlich zerstört. Die Freundin hat ihn verlassen, seine berufliche Karriere ist dahin, alles, wofür er gelebt hat, ist in unerreichbare Ferne gerückt und er kann ein Leben für sich in diesem Zustand nicht mehr akzeptieren. Er ist verbittert und zu keiner Freude mehr fähig.

Sehr einfühlsam werden die vielen Beschwerden, Schmerzen und zusätzlichen Belastungen beschrieben, die das Leben einer solchen Beeinträchtigung mit sich führt und wie viele Situationen von Abhängigkeit und dem Gefühl des Ausgeliefertseins bestimmt sind. Es ist auch ein Apell, mit Behinderungen offener umzugehen und alle Menschen gleichwertig zu behandeln. Sie mit Samthandschuhen anzufassen ist meist noch demütigender und frustrierender als das ständige Mitleid und die Bevormundung.  Auch die Prise Humor hat nicht gefehlt.

Überhaupt werden einige sehr sensible, aufrüttelnde Fragen aufgeworfen, was im Leben denn wirklich eine Bedeutung hat – und dass die Antwort auf diese Fragen nicht für jeden Menschen dieselbe ist: Der Unterschied der sozialen Verhältnisse im Vergleich von Lou und Will und auch der Zusammenhalt der Familien.  Der Schönheitswahn unserer Zeit, der sich in den sportlichen Exzessen von Lou´s Freund Patrick gezeigt hat, im Zusammenhang mit Will´s völligem Kontrollverlust.  Die Wünsche, Perspektiven und Ziele, die sich jeder setzt und wie man mit einer Situation fertig wird, die all das revidiert und die stete, unerschütterliche Frage: Was macht das Leben für mich lebenswert?

Die Anspannung hat mich bis zum Schluss nicht losgelassen. Aber auch darum geht es, loslassen und Entscheidungen anderer Menschen akzeptieren zu können. Denn ist es wirklich egoistisch von Will, aus dieser Situation fliehen zu wollen oder ist es nicht auch von all den anderen egoistisch, ihn um jeden Preis „behalten“ zu wollen …

Fazit

Ein sehr emotionales Buch – seit langem das erste, bei dem ich zu Tränen gerührt war. Es greift das Thema Sterbehilfe tatsächlich auf eine unterhaltsame und sehr einfühlsame Art auf und wird viele Menschen zum Nach- oder Umdenken anregen.

© Aleshanee
blog4aleshanee.blogspot.de